Die Prinzessin und die Greifvögel

 

Es war einmal ein König, der hatte sieben Kinder. Sechs Jungen und ein Mädchen. Eines Tages, als er von einer Reise zurück kam, rief er die sieben zu sich.

„Seht her, was ich euch mitgebracht habe.“,

sagte er und überreichte jedem von ihnen einen Greifvogel auf einem Handschuh.

Die Vögel der Prinzen hatten prachtvolles Gefieder und scharfe Krallen, doch der der Prinzessin wirkte schwach und müde. Sofort wetteiferten die Jungen darum, wer den schönsten, schnellsten und stärksten Vogel habe. Ihre Schwester schlossen sie aus.

„Dein Vogel kann eh nichts.“,

spotteten sie.

„Der überlebt nicht einmal den Winter.“

Doch die Prinzessin hatte ihren gefiederten Freund bereits ins Herz geschlossen.

„Wartet nur ab.“,

entgegnete sie.

„Ihr werdet schon sehen, was er kann.“

 

So zogen die Jahre ins Land und oft sah man die jungen Prinzen mit ihren stolzen Greifvögeln auf der Jagd. Ihre Schwester hingegen kümmerte sich in aller Stille um ihren Vogel und lange sah und hörte man nichts von diesem Paar, bis eines Tages ein Wanderer in das Königreich kam und um eine Audienz beim König bat.

„Eure Majestät.“,

sagte er, als er vor dem Thron stand und sich verneigte.

„Ich komme als Botschafter des Königs eines fernen Landes. Er möchte demjenigen die Hand seiner Tochter geben, der drei Aufgaben lösen kann. Des weiteren soll jener sein Nachfolger sein und den Thron erben.“

„Sprich, was sind diese Aufgaben, die gelöst werden sollen?“,

antwortete der König.

Der Bote räusperte sich, holte ein Pergament hervor und begann mit lauter Stimme zu lesen.

„Mein König verfügt, dass man ihm eine goldene Feder bringe, einen goldenen Apfel und das Geweih des goldenen Hirsches.“

„So sei es.“,

sagte der König.

 

Der erste Prinz machte sich kurz darauf auf den Weg. Das Schwert an der Seite, den Vogel auf der Schulter und hoch zu Ross ritt er hinaus in die weite Welt.

Zuerst kam er an einen hohen Berg. Als er hinauf sah, sah er hoch oben an der Felswand etwas golden glänzen.

>> Das muss die goldene Feder sein<<

dachte er sich und begann den Felsen empor zu klettern.

Als er die Höhe erreichte, wo er den goldenen Schimmer erblickt hatte, fand er tatsächlich die gesuchte Feder. Gerade wollte er sie nehmen, als ein gewaltiger Adler vom Himmel stieß. Er ergriff den Prinzen und flog mit ihm davon.

 

Bald machte sich der zweite Prinz auf den Weg. Auch er erreichte den Berg und sah den goldenen Glanz an der Felswand.
>> Ein solcher Schatz liegt doch nicht einfach ungeschützt herum<<

dachte er sich.

>> Bestimmt wird er bewacht. Besser ich schicke zuerst meinen Vogel hinauf.<<

Er warf ihn in die Luft und der Vogel stieg empor. Als er die Höhe erreichte, wo die Feder in ihrem Nest lag, kam wieder der Adler herabgestoßen. Der Junge sah wie dieser seinen Vogel angriff und begann schnell zu klettern. Im direkten Kräftemessen hatte der kleinere Vogel des Prinzen jedoch keine Chance. Der Adler wandte sich dem anderen Eindringling zu, packte ihn mit seinen Krallen an den Schultern und trug ihn davon.

Daraufhin machte sich der dritte Prinz auf den Weg. Er kam zu dem Berg, sah die Feder und schickte seinen Vogel hinauf. Statt jedoch gegen den Adler zu kämpfen, wie es sein Bruder getan hatte, lockte er den Feind weg. Der Prinz sammelte die Feder ein, beim Abstieg jedoch brach der Stein unter seinem Fuß entzwei. Da er in der einen Hand die Feder hielt, konnte er weder weiter hinauf noch hinunter klettern. Als der Adler zurück kam, packte er ihn und trug ihn fort.

 

Von der Nachricht des Verschwindens seines dritten Sohnes betrübt, wurde der König krank und er verbot den anderen Prinzen sich ebenfalls auf den Weg zu machen. Die Suchtrupps, die man losschickte, kehrten alle zurück, ohne einen Erfolg melden zu können.

Die Prinzessin jedoch, von ihren Brüdern immer verspottet wegen ihres schwachen Vogels, wollte sich nun selbst auf die Suche machen. Da ihr Vater jedoch dagegen war, schlich sie sich im Schutze der Nacht davon.

Sie war noch nicht weit gekommen, als sie hinter sich stimmen hörte.

„Schwester, warte auf uns“,

rief der eine.

„Wir möchten unsere Brüder auch suchen.“,

rief ein anderer. Und der dritte rief:

„Lass uns gemeinsam reiten.“

Für eine Umkehr war es nun, trotz der erst kurzen Strecke bereits zu spät, sodass die Geschwister zusammen weiter reisten.

 

Sie kamen an den hohen Berg, wie schon ihre Brüder vor ihnen. Im Licht der Sonne funkelte die goldene Feder in ihrem Nest an der Felswand.

„Lasst uns hinauf klettern und die Feder holen.“,

sagte der Jüngste. Die Schwester jedoch sprach:
„Wozu sollen wir klettern, wenn wir geflügelte Freunde haben, die sie für uns holen können? Schickt die euren hinauf, auf das sie den Adler ablenken. Meiner wird die Feder holen.“

Skeptisch schickten die drei Prinzen ihre Vögel hinauf. Wie sollte dieses schwache Tier der Prinzessin eine solche Aufgabe erfüllen? Woher sollte er wissen was zu tun war?

Die Prinzessin flüsterte ihrem Vogel etwas zu und warf ihn in die Luft. Er schraubte sich höher und höher, griff die Feder und flog wieder hinab. Staunend sahen die Jungen ihre Schwester an.

„Wie hast du das gemacht?“,

wollten sie wissen. Das Mädchen jedoch sagte nur:
„Lasst uns weiter gehen. Wenn wir die Reise fortsetzen wie es unsere Brüder taten, werden wir sie bestimmt bald finden.“

 

Als sie weiter ritten, kamen sie an einen Garten, in dessen Mitte ein großer Apfelbaum stand. An diesem hing ein einzelner, goldener Apfel.

„Lasst ihn uns rasch pflücken und weiter reiten.“,

sagte der zweite Prinz.

„Ein solcher Garten muss jemandem gehören.“,

warf die Prinzessin ein.

„Lasst uns sehen, ob wir ihn finden.“

So betraten sie den Garten und fanden bald eine Hütte. Vor der Hütte saß ein alter mann mit langen weißen Bart.

„Ihr wollt also meinen goldenen Apfel?“,

fragte er mit altersschwachen Stimme.

„Bringt mir dafür ein wenig Wasser aus dem Brunnen des Lebens und Erde vom Feld der Krähenhexe. Dann sollt ihr ihn haben.“

Die vier Königskinder stimmten zu und machten sich wieder auf den Weg.

 

Zuerst kamen sie an den Brunnen des Lebens. Sie füllten ein wenig von dem Wasser in einen Beutel und verschlossen ihn. Während die Prinzen schon weiter ritten, füllte die Prinzessin einen weiteren Beutel mit normalen Wasser und hängte ihn neben den anderen an ihren Sattel. Dann ritt sie rasch hinter den anderen her.

 

Sie kamen zum Feld der Krähenhexe. Gerade wollten die Kinder etwas Erde einstecken, als ein Schwarm Krähen auf sie nieder stieß und sich in eine runzlige alte Frau verwandelte.

„Wer stiehlt von meinem Feld?“,

fragte sie und hob drohen den Zeigefinger.

„Wir wollten nicht stehlen.“,

widersprachen die vier.

„Wir brauchen die Erde um unsere Brüder zu finden.“

„Eigentlich sollte ich euch alle in Würmer verwandeln und meinen Krähen zu fressen geben.“,

überlegte die Hexe.

„Aber wenn ihr mir das Wasser des Lebens gebt, sollt ihr die Erde haben und gehen dürfen.“

Das Wasser jedoch brauchten die Geschwister für den alten Mann, außerdem wäre es bestimmt nicht gut, wenn die Hexe es in die Finger bekäme.

„In Ordnung.“,

sagte die Prinzessin.

„Ihr sollt das Wasser haben. Seht, es ist in diesem Beutel.“

Sie schüttete ein paar Tropfen aus dem Beutel in ihre Hand und ließ sie auf die trockene Erde fallen. Sofort begannen, dort wo die Tropfen auftrafen, Blumen zu wachsen. Überzeugt davon das echte Wasser des Lebens zu erhalten, nahm die Hexe den Beutel von dem Mädchen entgegen, ließ die Prinzen etwas Erde aufsammeln und die kleine Gruppe davon reiten. Was die Prinzessin der Hexe aber in Wahrheit gegeben hatte, war der Beutel mit dem normalen Wasser gewesen.

 

Zurück im Garten des alten Mannes, überreichten sie ihm das echte Wasser des Lebens und die Erde vom Feld der Krähenhexe.

„Gut gemacht Kinder. Damit kann ein neuer, goldener Apfel wachsen.“,

sagte der alte Mann. Gemeinsam gingen sie zu dem Baum und die Königskinder pflückten den Apfel, der daran hing. Sie freuten sich, denn damit hatten sie bereits zwei der drei geforderten Dinge, die der König des fernen Landes haben wollte, gefunden.

„Aber wo mögen nur unsere Brüder sein?“,

fragten sie sich.

 

Mit der goldenen Feder und dem goldenen Apfel im Gepäck ritten die drei Prinzen und die Prinzessin weiter. Ihnen fehlte nur noch das Geweih des goldenen Hirsches, aber eine Spur von ihren Brüdern hatten sie noch immer nicht gefunden.

Nach einer Weile kamen sie an einen dichten Wald mit alten, hohen Bäumen. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fielen, malten Muster auf den Boden, der bedeckt war mit Moos und Pilzen. Hin und wieder huschten Tiere zwischen den dicken Stämmen hindurch.

Hier, sagte man, in diesem schon fast magischen Wald, sollte der Hirsch mit dem goldenen Geweih leben.

Nachdem sie schon eine Weile geritten waren, aber noch nichts gefunden hatten, schlug die Prinzessin vor ihre Vögel loszuschicken.

„Sie sind schneller als wir und haben bessere Augen. Wenn sie ihn finden, zeigen sie uns den Weg.“

„Wie soll das gehen? Es sind nur Vögel. Woher sollen sie wissen, dass sie uns den Weg zeigen sollen, oder was wir überhaupt suchen?“,

zweifelten ihre Brüder.

„Nun gut, dann schicke ich nur meinen los.“,

antwortete sie da. Sie flüstere ihrem Vogel etwas zu und warf ihn in die Luft.

Wieder ritten sie eine Weile. Schließlich beschlossen sie, ihr Nachtlager aufzuschlagen.

„Wir können bald nichts mehr sehen. So hat es keinen Sinn weiter zu suchen.“,

meinte der älteste der drei Prinzen. Die anderen stimmten zu. Bald hatten sie ihre Decken im Schutze einiger Büsche ausgebreitet, ein kleines Feuer entfacht und drei von ihnen legten sich schlafen, während einer Wache hielt.

 

Mitten in der Nacht erklang ein Knacken und Krachen, dass die Kinder aufweckte. Alarmiert nahmen die Jungen ihre Schwerter und stellten sich schützend um ihre Schwester herum auf, die nur einen kleinen Dolch hielt. Angestrengt suchten ihre Augen das Dunkel um sie herum ab.

Es schien, als ob sich die Bäume bewegen würden. Vor den vier Kindern öffnete sich ein Pfad zwischen den Stämmen, als wollte der Wald ihnen sagen

>> Geht hier entlang<<

Nur kurz zögerten sie, dann packten sie rasch ihre Sachen zusammen und folgten diesem neuen Weg.

 

Der Weg führte sie immer weiter ins Herz des Waldes. Plötzlich endete das Gehölz und sie traten auf eine große Lichtung. Und auf dieser Lichtung saßen ihre Brüder an einem Tisch, unbeweglich, wie zu Salzsäulen erstarrt, doch unverkennbar am Leben.

„Unsere Brüder, wir haben sie gefunden“,

rief die Prinzessin erfreut und lief direkt auf sie zu, als der Hirsch mit dem goldenen Geweih ebenfalls die Lichtung betrat. Sofort blieb das Mädchen wieder stehen.

Der Hirsch war von beeindruckender Größe, und sein Geweih, im Schein des Mondes leuchtend, sah ebenso beeindruckend und gefährlich aus. Die Augen des Tieres aber strahlten Ruhe aus. Er war eindeutig der Herr des Waldes.

„Seit ihr hier um eure Brüder zu retten?“,

erklang eine Stimme in den Köpfen der Prinzen und der Prinzessin. Diese nickten. Der Hirsch sprach weiter.

„Sie wurden von den Adlern der Federklippe hier her gebracht. Ich kann sie nicht ohne weiteres gehen lassen, außer ihr beweist genug Mut, selbst dorthin zu gehen und die Feder zu holen.

Da griff die Prinzessin in ihren Beutel und zog die goldene Feder hervor.

„Die Feder haben wir bereits gefunden. Unsere Greifvögel haben uns dabei geholfen, sodass wir nicht klettern mussten.“

In diesem Moment kam auch ihr Vogel zurück und setzte sich auf die Schulter des Mädchens.

Mit ausgestrecktem Arm hielt sie dem Herrn des Waldes die Feder hin. Ein Eichhörnchen sprang herbei und nahm sie ihr ab. Der Hirsch nickte.

„Ihr habt bewiesen, dass ihr euch gut mit den Tieren versteht. Doch noch kann ich eure Brüder nicht gehen lassen, braucht man doch den goldenen Apfel, um sie aus ihrer Starre zu erlösen.“

Diesmal trat der jüngste Prinz vor und holte den Apfel aus seinem Beutel.

„Wir haben ihn für das Wasser des Lebens und etwas Erde vom Feld der Krähenhexe erhalten.“

Der Hirsch trat näher und besah sich den Apfel. Als er sah das er echt war, nickte er erneut.

„Um der Krähenhexe etwas Erde abzugewinnen, braucht es sowohl Mut als auch Klugheit. Gebt jedem eurer Brüder ein Stück des Apfels, dann sind sie von ihrer Starre erlöst.“

Gesagt getan, verteilten die drei jungen Prinzen den Apfel an ihre älteren Brüder. Sobald sie einen mit dem goldenen Apfel berührten, zerfiel das Stück zu Staub und der Prinz konnte sich wieder bewegen.

Groß war die Freude bei den jungen Prinzen und ihrer Schwester. Die erlösten Prinzen jedoch waren nicht so erfreut wie ihre Geschwister. Schließlich hätten sie mit der goldenen Feder und dem goldenen Apfel ein Königreich bekommen können, sobald sie dem Hirsch das Geweih genommen hätten. Als sie jedoch hörten, das ihr Vater vor Kummer krank geworden war und das Reich darunter litt, schwand ihr Ärger.

Zu siebt machten sie sich auf den Weg nach Hause, in das Königreich ihres Vaters, wo bei ihrer Rückkehr ein großes Fest veranstaltet wurde, so freuten sich die Leute, dass die Königskinder wieder zurück waren. Beim Festessen im Thronsaal ließ der König sich die Geschichte seiner Kinder erzählen und war wieder so gesund wie zuvor.

„Doch sag, meine Tochter, was hast du deinem Vogel denn geflüstert, dass er genau tat was du wolltest?“,

fragte er die Prinzessin am Ende. Diese lächelte, strich ihrem Greifvogel, der auf einer Stange hinter ihr saß über das Gefieder und sagte:
„Es ist nicht wichtig stark und schnell zu sein. Man braucht keine starken Waffen und scharfe Krallen um sich zu beweisen. Ein wacher Verstand ist die stärkste Waffe. Also flieg und sei der klügste, auf dass dich keiner einzuholen vermag.“

Bei diesen Worten breitete der Vogel seine Schwingen aus, stieg zur Decke empor und entschwand durch eines der geöffneten Fenster. Auf die erstaunten Blicke ihrer Brüder sagte die Prinzessin nur:
„Wer seine Aufgabe erfüllt hat, sollte frei sein zu gehen. Er brachte uns unsere Brüder zurück, nun soll er zu den seinen zurück kehren.“

Das Fest ging noch den ganzen Abend hindurch, bis in die Nacht und in den nächsten Tag.

Einige Jahre später kam ein Jüngling an den Hof und hielt um die Hand der Prinzessin an.

Auf seiner Schulter saß ein Greifvogel, der bei ihrem Anblick stolz den Kopf reckte und manch einer meinte, ihn zwinkern zu sehen.

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