Die Wölfe und die Zauberblume

von Arianne Daye


Vor vielen, vielen Jahren, in einem fremden Land, gab es ein Dorf am Fuße der Berge. 

In diesem Dorf lebte eine kleine Familie. Vater, Mutter, sowie ihre beiden Kinder, ein Mädchen und ihr kleiner Bruder.  

Und was war der Junge für ein Lausbube.

Es gab kaum einen Tag, an dem er nicht irgend jemandem einen Streich spielte, seine Aufgaben im Haushalt schwänzte oder zwischen den Hütten umher tobte und die Hühner jagte. 

Nur seine Schwester Jasmin konnte ihn meist beruhigen und seinen Späßen Einhalt gebieten. Oft spielten sie gemeinsam im Wald oder erkundeten die nahen Berge.

In einem Winter jedoch wurde Jasmin schwer krank. Ihre Eltern ließen die Ärzte aus den benachbarten Dörfern kommen und sogar aus der entfernten Stadt, doch keiner konnte ihr helfen. 

“Wenn wir doch nur die Mondscheinblume hätten” murmelte der eine. 

“Die Mondscheinblume könnte ihr helfen” sagte ein anderer.

Mit jedem Tag wurden die Eltern verzweifelter und sie schimpften nicht einmal mehr mit Luca, wenn er wieder durch die Küche tobte und die Töpfe herunter warf. 

“Was ist die Mondscheinblume?”, fragte der Junge seinen Vater, als wieder ein Arzt ratlos das Haus verließ.

“Das ist eine magische Blume, die nur hoch oben in den Bergen wächst und auch nur im Mondlicht gepflückt werden kann. Ihre Blätter sind strahlend blau und ihre Mitte leuchtet so silbern wie der Mond. Aber sie ist sehr selten. Manche sagen sogar, es gäbe sie gar nicht, doch sie soll jede Krankheit heilen können”


In der Nacht lag Luca lange wach.  Er liebte seine Schwester über alles und wollte, dass sie bald wieder gesund wurde. Immer wieder hörte er ihr Husten, aus dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers. Es klang so gequält, dass er es kaum ertragen konnte. Er musste ihr helfen! Also fasste er einen Entschluss. 

 Kurz bevor die Sonne aufging, zog er leise, um seine Eltern ja nicht zu wecken, seine wärmste Kleidung an. Dann steckte er etwas Brot und Schinken in einen Beutel, sowie einen Wasserschlauch und schlich hinaus. Er würde die Mondscheinblume finden und Jasmin retten.


Luca stapfte durch den tiefen Schnee. Sein Atem bildete kleine Wolken vor seinem Gesicht. 

Als er sich umdrehte, war das Dorf schon nicht mehr zu sehen. Um ihn herum glitzerte der Schnee und die Bäume bogen sich unter ihrer weißen Last. Langsam erwachten die Vögel und sangen ihre Lieder, während sie von Ast zu Ast flogen. Es war, als hätte die Natur einen weißen Mantel übergeworfen, der die Welt in ein andächtiges Schweigen hüllte.
Er lief eine Weile und  setzte sich dann unter einen Baum um sich auszuruhen,  aß ein wenig von seinem Brot und trank von dem Wasser. Dann machte er sich erneut auf den Weg. 

Bald jedoch zogen dunkle Wolken am Himmel auf und es fing kräftig an zu schneien.

Die Welt um Luca verschwand im Weiß, doch hörte er nun auch das Heulen der Wölfe, die im Schneesturm nacheinander riefen. 

Er erreichte eine kleine Höhle, die ein wenig Schutz versprach. Er ging hinein und kauerte sich ganz klein zusammen, um der Kälte ein wenig zu entgehen.

“Awhoooo!” erklang es ganz in seiner Nähe und ein Schatten erschien im Eingang der Höhle.

Ein wunderschöner, großer Wolf stand dort und sah mit seinen goldenen Augen den Jungen an. Weitere Wölfe kamen hinzu und drängten in die Höhle. 

Luca zitterte, nun nicht mehr  nur vor Kälte. Schnuppernd, witternd näherten sich die Wölfe. 

“Bitte tut mir nichts. Ich versuche bloß meiner Schwester zu helfen. Hier, ihr könnt auch etwas davon abhaben” und er hielt ihnen den Schinken hin. Der größte Wolf kam langsam und lautlos auf ihn zu, die messerscharfen Zähne gefletscht. Luca erstarrte vor Angst und brachte keinen Ton raus. Da schnappte das große Maul auf! Luca kniff die Augen zusammen und erwartete den Biss…. doch nichts geschah. Da spürte er ein Zupfen an seiner Hand, als der Wolf den Schinken nahm. Der Junge schlug die Augen wieder auf und sah, wie der Wolf das Fleisch mit seinem Rudel teilte. Dann schleckte er Luca über das Gesicht und die Wölfe legten sich um den Jungen herum auf den Boden. Ihre pelzigen Körper wärmten ihn und vertrieben die Kälte.


Als der Schnee nachließ machte sich Luca wieder auf den Weg. Die Wölfe begleiteten ihn.

Treue Schatten zwischen den Bäumen. Nur der Anführer des Rudels blieb direkt an der Seite des Jungen.

So wanderten sie eine Weile durch die zauberhaft wirkende Landschaft, weiter den Berg hinauf.

Immer wieder sah er Spuren im Schnee.  Hier war die Spur eines Fuchses. Dort war ein Hase entlang gehoppelt und da sprang ein Reh über die Steine und verschwand im Dickicht. 

Es war so friedlich und still hier im verschneiten Gebirge. 

Erst als ihn der Wolf, aufgrund der Fellfarbe taufte Luca ihn Grauer,  anstupste und zum weitergehen drängte, bemerkte er, dass er stehen geblieben war und nur noch der Stille lauschte.

Bald kamen sie an einer steilen Felswand an. Zu hoch um hinaufzuklettern und kein Weg schien hinauf zu führen. 

“Was mache ich denn jetzt?”, fragte der Junge hilflos. Da knurrte Grauer auf einmal und auch Luca hörte nun das raue Lachen und die Stimmen mehrerer Männer. Mit ungepflegten Bärten, kaputter Rüstung und rostigen Waffen am Gürtel, kamen drei Banditen hinter einem Felsen hervor. 

“Na, was haben wir denn hier? Ein kleines Kind und seinen Hund. Was machst du denn allein soweit in den Bergen?” 

“Du Dummkopf. Siehst du nicht, dass das ein Wolf ist?”, fragte der zweite.

“Wäre das ein Wolf, hätte er das Balg doch längst gefressen” warf der dritte ein. 

Luca ging langsam rückwärts, während die Männer näher kamen. 

“Was meint ihr? Wieviel bekommen wir, wenn wir den Burschen verkaufen?” 

Der Anführer grinste und offenbarte dabei einige Zahnlücken. 

Der Wolf wich beim Anblick der Waffen zurück und verschwand.
“Grauer, bleib hier!”, rief Luca und rannte los um ihm zu folgen. Da sprang einer der Banditen vor und hielt ihn fest. 

“Du bleibst hier, Bürschchen. Mit dem Geld für dich, werden wir uns ordentlich die Bäuche vollschlagen können.” 


Stumme Tränen liefen ihm über die Wangen, während er hinter den Banditen herstolperte, gezogen von einem Seil, dass sie ihm um den Bauch gebunden hatten. 

“Wir machen Pause. Du, Junge. Mach Feuer.”

Luca sammelte das bisschen Holz zusammen, dass er fand, doch er hatte Mühe es zu entzünden. Der Anführer stieß ihn schließlich beiseite und machte es selbst, während der zweite Bandit das Ende des Seiles an einen dürren Baum knotete. Die Sonne ging bereits unter und Hoffnungslosigkeit erfasste Luca. Er würde die Blume niemals finden und Jasmin würde nicht gesund werden. 

“Es tut mir leid Schwester”, flüsterte er. In dem Moment erscholl um sie herum ein vielstimmiges Heulen und Knurren. So laut, dass es von den Felsen zurückgeworfen wurde und der Schnee herab rieselte.  

“Grauer!”, rief der Junge erfreut, als er seinen Freund erkannte, der, tief geduckt, auf die Banditen zuschlich. Neben ihm die Wölfe seines Rudels. Eine feuchte Nase stupste seine Hand an. Ein Welpe war zu ihm gekrochen und knabberte nun an dem Seil, mit dem er an den Baum gebunden war. 

Die Banditen fluchten, während sie versuchten, die Wölfe fernzuhalten, doch die geschickten Jäger waren zu schnell für sie. Immer wieder sprangen sie von links nach rechts, vor und zurück. Schließlich standen sechs ausgewachsene Wölfe zwischen den Banditen und Luca. Dieser stand nun auf und folgte dem Welpen, der ihn zielsicher zu einem Dornenbusch führte und darin verschwand. Schnell kniete sich Luca hin und sah eine Lücke in den Zweigen, durch die er hindurch kletterte. Er ignorierte die Dornen, die seine Haut aufritzten, blendete den Schmerz aus und kroch tapfer weiter.  Als er sich dahinter wieder aufrichtete, stand er auf einem schmalen Pfad, der weiter den Berg hinauf führte. Erleichtert den Banditen entkommen zu sein, sah er auf den Welpen, das den Pfad entlang tobte. Hinter sich hörte er noch immer das Knurren der Wölfe und Rufe der Männer. 

“Danke, kleiner Wolf.  Jetzt kann ich die Mondscheinblume doch suchen und Jasmin retten!”, freute er sich und begann zu laufen. 


Der Mond stieg höher über die Gipfel und erleuchtete die Nacht mit seinem silbernen Licht.

Nur noch der Welpe begleitete ihn auf seinem Weg. Der Pfad endete auf einer Ebene. Rund herum gab es nichts, außer den steilen Abgrund. Über ihm hing der Mond, groß und rund, umschmeichelt von vereinzelten Wolken und verziert von funkelnden Sternen.

Als Luca den Blick schweifen ließ, fiel sein Blick auf eine leuchtende Blume auf der anderen Seite. Nah an der Kante wuchs sie, ihre Blätter strahlten in tiefem Blau und ihre Mitte schien den Mond selbst eingefangen zu haben, so silbern funkelte sie ihm entgegen. 


Eine Gestalt aus Sternenlicht kam vom Himmel herab und landete sanft neben der Mondscheinblume. Eine schlanke Raubkatze, die Luca direkt ansah.
“Wozu möchtest du diese Blume pflücken? Sie ist die einzige ihrer Art und der Lebensgeist des Berges.” 

“Meine Schwester ist krank. Die Mondscheinblume ist das einzige, das sie wieder gesund machen kann”

“Nimmst du diese Blume mit dir, stirbt der Berg und alles das auf ihm lebt.”

Luca sah von der Blume zu dem Wolfswelpen neben ihm. Dann ließ er den Blick über die Ebene wandern und sah Grauer und sein Rudel. Die sechs Wölfe hatten am Eingang des Pfades gewartet, kamen nun jedoch näher und ließen sich neben der Katze nieder. Auch der Welpe rannte zu ihnen.

“Was soll ich bloß tun… ich kann doch nicht den Berg und meine Freunde sterben lassen…”

Luca sah zu der Blume. So nah und doch so fern, die einzige Rettung für seine geliebte Schwester.  “Gibt es denn gar nichts, das ich tun kann?”

Die Sternenlichtgestalt setzte sich. “Du könntest selbst zum Geist des Berges werden”, antwortete sie ihm lauernd.  “Werde zum Geist des Berges und bleibe für immer hier. Niemals alternd, niemals sterbend. Ein Geschöpf des Mondes, ohne Gestalt, außer im hellsten Licht der Nacht.” 

Der Junge sah auf. “Mutter und Vater werden traurig sein, aber sie haben ja noch Jasmin. Wenn es sie rettet, werde ich hier bleiben”, sagte er leise. Der Wind trug seine Worte über die Ebene.  “Grauer, bring bitte die Blume zu Mutter und Vater.”

Mit einem traurigen Lächeln griff Luca nach der leuchtenden Mondscheinblume und pflückte sie. 

Ein Strahl Mondlicht fiel herab, umhüllte den Jungen und hob ihn sanft empor. Er hatte erwartet, dass es kalt wäre, doch es war warm, wie die Hand seiner Mutter, wenn sie ihm über das Haar strich. “Mama… Papa... Schwester.” Er schloss die Augen.


“Luca! Luca! Oh mein Junge, so sag doch was!”

Verwirrt öffnete Luca die Augen. Erst verschwommen, dann deutlicher, blickte er in das ängstliche Gesicht seines Vaters. 

“Er ist wach! Unser Junge ist aufgewacht!”, rief dieser über die Schulter und Mutter erschien an seiner Seite. 

“Du dummer, dummer Junge. Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Mach das nie, nie wieder!”, schimpfte sie mit Tränen in den Augen. 

“Vater, Mutter… ich wollte die Mondscheinblume holen. Um Jasmin zu retten…” flüsterte Luca. Er war Zuhause. Hatte er versagt? War das alles nur ein Traum gewesen?

Er setzte sich auf. Nein, es war kein Traum gewesen, denn um seinen Bauch spürte er deutlich das Seil der Räuber. Er betrachtete seine Hände und da war sie. Mit strahlend blauen Blättern und silberner Mitte, so silbern wie der Mond.

“Seht doch nur!”, rief er. “Jetzt kann Jasmin wieder gesund werden!” 

Seine Eltern besahen die Blume mit großen Augen, dann eilten sie gemeinsam hinein. 

An der Tür blieb Luca stehen und sah hinauf zum Berg. Er war bei seiner Familie. Bedeutete das nun, dass der Berg sterben würde? Und Grauer und sein Rudel auch? 

>>Du warst bereit dein Leben zu geben, um das deiner Freunde und Schwester zu retten. Lebe, tapferer Luca. Die Sterne werden über dich wachen.<<

Sieben Schatten heulten am Waldesrand ein Siegeslied, bevor sie im Dunkel der Nacht verschwanden.
“Danke lieber Mond. Danke Grauer”, mit diesen Worten ging Luca hinein in die vom Feuer erwärmte Stube und wurde von seiner Familie in die Arme geschlossen.


ENDE



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